Juni 2019 - Ausgabe 210
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Franz von Karl-Heinz Gewandt |
So erschien eines Tages Mitte Februar ein blutjunger und sympathischer Tischler in unserer Wohnung und machte mehrere Tage lang unsere Fenster und Türen. Sein Deutsch war stark polnisch eingefärbt, und meine Mutter sprach ihn daraufhin an. Er fasste Vertrauen zu ihr, weil wohl auch die »Chemie« zwischen ihnen stimmte, und so erfuhren wir seine erschütternde Familiengeschichte, wie sie nur in dieser irrsinnigen Zeit möglich war. Franz stammte aus Westpreußen. Seine Heimat war der Kreis Dirschau, das heutige polnische Tczew. Diese Gegend zeichnete sich immer durch einen starken, polnischen Bevölkerungsanteil aus. Seine Familie war als »nichtdeutsch« - und damit als politisch unzuverlässig - eingestuft worden. Deshalb landete einer seiner Brüder in einem Lager, wo er verstarb. Die armseligen, blutigen Hinterlassenschaften waren der Familie kommentarlos ohne Nennung des Todesdatums oder der Ursache zugesandt worden. Ich meine mich zu erinnern, dass sein Vater und ein weiterer Bruder zur Arbeitsleistung in einer Kohlengrube im Elsass verpflichtet wurden. Franz hatte seine Lehre als Tischler 1944 beendet und wurde danach sofort zur Deutschen Wehrmacht eingezogen. Als Kanonenfutter konnte man also einen »Nichtdeutschen« brauchen. Er landete als blutjunger, 17- oder 18-jähriger Rekrut bei einem Berliner Truppenteil und wurde als ausgebildeter Handwerker zunächst zur Beseitigung von Bombenschäden vom aktiven Dienst freigestellt und kam zu einem Berliner Innenausbau-Betrieb in der Gneisenaustraße am Südstern. Die Firma Olm hatte im Dauerauftrag ständig Schäden an Regierungs- und Parteigebäuden zu beseitigen. Die Betriebsleitung versucht nach den Worten von Franz, ihn und einige weitere seiner Kameraden, die ebenfalls bei Olm beschäftigt waren und dort auch eine Unterkunft hatten, »abzudecken«, um sie vom Soldatenspielen fernzuhalten, solange es möglich war. Außerhalb der Arbeitszeit aber waren sie alle zum Tragen der Uniform verpflichtet. Seine Freizeit verbrachte Franz fast immer bei uns zuhaus, und in diesen Wochen wurde er uns zu einem Freund und großen Bruder. Ich zeigte ihm Teile des zerstörten Berlins, immer wieder angehalten von den verhassten Feldgendarmen, »Kettenhunden«, die in jedem Uniformierten einen möglichen Deserteur sahen. Durch ihn lernte ich bei Kirchenbesuchen die polnische Frömmigkeit kennen und achten. Franz zeigte mir Tricks und Handwerkerkniffe, die ich heute noch beherrsche. Am Ostersonntag 1945 brachte er meiner Mutter als Osterei freudestrahlend einen Nähkasten, den er in der Freizeit angefertigt hatte, und der jahrzehntelang in meiner Familie in Ehren gehalten wurde. Mit seinem sonnigen und unbekümmerten Wesen brachte er auch in den schwierigen und gefahrvollen Tagen vor Kriegsende immer einen Hauch Lebensfreude in unser Haus. Franz war ein intelligenter junger Mann, und meine Mutter betonte später immer wieder, dass sie sich gerne an die Gespräche mit ihm erinnere. Meine paar Brocken Polnisch, die ich beherrsche, brachte er mir bei, und wie man ein Fahrrad flickte, zeigte mir Franz. Die Anfänge des Holzschnitzens (einschließlich Fingerverbinden) brachte er mir auch bei. Er war ein Kumpel. Mit dem Näherkommen der Front bei den Kämpfen um Berlin riss die Verbindung zu ihm plötzlich ab, und Franz Muschinski verschwand aus unserem Gesichtskreis. Wir nahmen an, dass er als Angehöriger der Wehrmacht in die Kampfhandlungen und Wirren des Zusammenbruchs verwickelt worden war, und machten uns Sorgen um ihn. Im Spätsommer 1945, also lange nach Kriegsende, machten wir uns auf den Weg zur Firma Olm, um uns nach seinem Verbleib zu erkundigen. Zu unserem Entsetzen erfuhren wir, dass »unser Franz« nicht mehr lebte. Er war Mitte April, kurz vor Kriegsende, bei einem der letzten nächtlichen amerikanischen Luftangriffe auf Berlin zusammen mit seinen Arbeitskollegen ums Leben gekommen. Das Fabrikgebäude im hinteren Teil des Hauses, in dem die Betriebsangehörigen ihre Unterkünfte hatten, erhielt einen Bombenvolltreffer. Dabei waren alle im Luftschutzkeller befindlichen Personen umgekommen. Sie wurden unter den Trümmern begraben, so berichtete man uns. Der Bitte meiner Mutter, uns über die Entrümmerung des Hauses und die Bergung der Leichen zu informieren, wurde nicht entsprochen. Man hatte es trotz Zusage übersehen, uns zu benachrichtigen. Und so ruht Franz Muschinski - von mir bis heute unvergessen - wahrscheinlich auf dem Friedhof an der Lilienthalstraße in einem Massengrab. Ich kannte ihn nur wenige Wochen, aber ich möchte diese Schilderung seinem Andenken widmen. Er war mir ein Freund, und ich verdanke ihm mein erstes polnisches Wort: »Dziekuje - Danke!« Alle Nachforschungen von unserer Seite zu seinem Schicksal waren vergeblich und scheiterten meistens an der zum Teil vorhandenen Gleichgültigkeit von Leuten und Stellen, die hier hätten helfen können. Danke, lieber Franz. Du hast uns gezeigt, dass sich Menschen verschiedener Sprachen und Nationen auch in schweren Zeiten verstehen und achten können. • Foto: Kreuzberg Museum
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